nolde / kritik / documenta - Ein Projekt des documenta archivs, der Draiflessen Collection, der Nolde Stiftung Seebüll und Mischa Kuball
Emil Nolde (1867–1956) zählt zu den bekanntesten Künstlern der klassischen Moderne. Seine heutige Wahrnehmung ist durch historische Mythenbildung und deren Dekonstruktion geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lancierten er selbst und die zeitgenössische Kunstgeschichtsschreibung das Bild des verfemten Malers. Erst in jüngster Zeit sind Noldes antisemitische Haltung und sein Opportunismus gegenüber dem Regime wieder ins Bewusstsein gerückt.
Der Düsseldorfer Konzeptkünstler Mischa Kuball (*1959) hat sich mit Unterstützung der Nolde Stiftung Seebüll, auf die Spuren dieser ambivalenten Künstlerpersönlichkeit begeben und sich kritisch mit Werk und Wirkung Emil Noldes auseinandergesetzt. Erste Ergebnisse waren im Winter 2020/2021 in der Draiflessen Collection in Mettingen zu sehen.
Auf Einladung des documenta archivs setzt Kuball diese Spurensuche in diesem Jahr fort. Das forschungsbasierte Ausstellungsprojekt „nolde / kritik / documenta“ beleuchtet die Verschränkung von Werk und Biografie und fragt nach den Widersprüchlichkeiten der Moderne, die in der Künstlerfigur Emil Nolde exemplarisch hervortreten. Der Ausgangspunkt ist die Inszenierung der Gemälde Noldes im Rahmen der documenta I-III (1955, 1959, 1964), die den „Mythos Nolde“ entscheidend prägte. Ein Beispiel hierfür ist die nach 1945 entstandene Legende der „Ungemalten Bilder“ – jener kleinformatigen Aquarelle die Nolde während des Zweiten Weltkriegs in angeblicher Isolation schuf.
Einige der damals gezeigten Werke, kehren nun erstmals nach Kassel zurück. Aus postkolonialer Perspektive befragt Kuball den Zugriff Noldes auf fremde Kulturen anhand einer Auswahl ethographischer Objekte aus dessen Besitz. Kuball folgt in seiner Inszenierung dem Prinzip des vielschichtigen Nebeneinanders – von Gesagtem und Unausgesprochenem, von Sichtbarem und Unsichtbarem. Seine künstlerische Forschung eröffnet gesellschaftspolitische Diskurse, die über die Person Emil Nolde hinausweisen und Mechanismen der künstlerischen Selbstinszenierung und Erinnerungskultur offenlegen.
Für die Ausstellung entsteht eine raumgreifende medial bespielte Installation, die als begehbarer „Reflexionsraum“ gewohnte Präsentationsformen methodisch unterläuft und unseren Blick auf die künstlerischen Originale nachhaltig verändert.
Grundlage des Projekts sind umfassende Recherchen im documenta archiv, im Archiv der Nolde Stiftung Seebüll und im Warburg Institute, London.
Begleitend zur Ausstellung finden am 19. Januar und am 9. Februar 2023 zwei Podiumsdiskussionen statt.
Die erste Veranstaltung kreist um Fragen der Aneignung indigener Kulturen um 1900 im Kontext des Expressionismus. Im zweiten Gespräch geht es um die ambivalente Biografie Emil Noldes, die exemplarisch für das problematische Verhältnis von Werk und Autor steht. Die euphorische Rezeption seiner Malerei soll vor dem Hintergrund der frühen documenta Ausstellungen und der Kunstgeschichtsschreibung diskutiert werden.
Der Katalog zur Ausstellung im Fridericianum erscheint in erweiterter Neuauflage in deutscher und englischer Sprache.
Katalog:
nolde / kritik / documenta
Herausgeber*innen:
Birgitta Coers / documenta archiv, Martin Brenninkmeijer, Corinna Otto / Draiflessen Collection
Autor*innen: Astrid Becker, Birgitta Coers, Sabine Fastert, Jens Kastner, Nicole Roth, Barbara Segelken, Bill Sherman, Wolfgang Ullrich
Gestaltung: Studio Carmen Strzelecki
Broschur, 208 Seiten, 30 farbige und 70 s/w Abbildungen
Verlag DCV
ISBN 978-3-96912-076-7 (Deutsch)
ISBN 978-3-96912-077-4 (Englisch)